Hepatitis-C-Epidemiologie in der Schweiz: Unsere Stellungnahme zu neuen Schätzungen

News — 08.08.2023

Kürzlich ist eine neue Publikation zum Thema der Hepatitis-C-Prävalenz (1) im Journal of Viral Hepatology erschienen. Wir sind der Meinung, dass diese Publikation erhebliche Mängel aufweist, s. auch «Detailed List of Concerns» (s. Downloads). Zusammen mit internationalen Expertinnen und Experten haben wir wie folgt Stellung genommen und diese Stellungnahme auch im selben Journal als Letter to the Editor (2) veröffentlicht:

Sehr geehrte Redakteure

Mit grossem Interesse haben wir die oben erwähnte Publikation studiert, die sich mit der wichtigen Frage nach der aktuellen Prävalenz der chronischen Hepatitis-C-Virus (HCV)-Infektion in der Schweiz beschäftigt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Prävalenz viel niedriger ist als in früheren Studien geschätzt.

Wir möchten diese Schlussfolgerung jedoch in Frage stellen, da wir einige Ungereimtheiten feststellen.

Erstens wurden die gefundenen Veröffentlichungen nicht systematisch auf ihre Gültigkeit und Zuverlässigkeit hin überprüft. Ein Beispiel von vielen ist die Publikation von Djebali-Trabelsi (3). Diese Studie weist einen selbst-deklarierten «selection bias» auf und ihre Ergebnisse sind daher nicht generalisierbar, eine Einschränkung, die nicht diskutiert wurde.

Ausserdem beruhen die Berechnungen für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf fragwürdigen und nicht nachvollziehbaren Annahmen. Wiederholt wird auf Sekundär- statt auf Primärliteraturquellen verwiesen. Beispiele sind der Prozentsatz der getesteten und behandelten Personen in bestimmten Bevölkerungsgruppen, die Rate der Spontanheilungen oder die Mortalität. Darüber hinaus ist die Behauptung der Autoren, dass die meisten Todesfälle in der Gruppe der Menschen, die Drogen injizieren (People With Injecting Drug use - PWID), auf Komorbiditäten und nicht auf HCV zurückzuführen sind, nicht durch Berechnungen untermauert und steht im Widerspruch zu anderen Veröffentlichungen (4).

Es wird keine Stratifizierung vorgenommen, selbst wenn die Populationen und Zeiträume sehr unterschiedlich sind, wie es bei der Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung der Fall ist. Sie stützen sich auf zehn Veröffentlichungen, in denen insgesamt 64 virämische Fälle mit meist unklaren Nennern festgestellt werden. Die Autoren berechnen dann die durchschnittliche Prävalenzrate und wenden sie auf eine Bevölkerungsgröße von 6 Millionen an.

Zudem wurden bei der Prävalenzschätzung unter Personen aus Italien Personen mit Geburtsjahren nach 1953 ausgeschlossen, obwohl die Geburtsjahrgänge der HCV-positiven Personen in Italien breit gestreut sind (5). Die Autoren lassen auch andere im Ausland geborene Personen aus Ländern mit mittlerer Prävalenz unberücksichtigt, die einen relevanten Anteil der in der Schweiz lebenden Personen ausmachen (6), wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Unterschätzung der Prävalenz steigt.
Darüber hinaus extrapolieren die Autoren Daten aus der SAMMSU-Kohorte. Diese Kohorte weist eine Verzerrung bei der Rekrutierung von PWID unter Best-Practice-HCV-Versorgung auf, was von den Autoren nicht diskutiert wird (7). Die Extrapolation dieser Daten auf die gesamte PWID-Population unterschätzt die Virämie in dieser Gruppe erheblich.

Unserer Meinung nach diskutieren die Autoren die Einschränkungen unzureichend und gehen mit Unsicherheiten nicht in Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Standards um. Deshalb können wir die Schlussfolgerung der Autoren nicht teilen, dass die Prävalenzschätzungen revidiert werden sollten und dass die Schweiz die WHO-Eliminierungsziele erreicht hat. Um diese Lücke zu schliessen, wären weitere Untersuchungen und die Erhebung von Primärdaten notwendig.

Referenzen

  1. Bertisch B, Schaetti C, Schmid P, et al. Chronic hepatitis C virus infections in Switzerland in 2020: lower than expected and suggesting achievement of WHO elimination targets. J Viral Hepat. 2023; 30(8): 667-684.
  2. Blach S, Bregenzer A, Bruggmann P, Cerny A, Maeschli B, Müllhaupt B, et al. Assessing the hepatitis C epidemiology in Switzerland: it’s not that trivial. J Viral Hepat. 2023;00:1-2.
  3. Djebali-Trabelsi A, Marot A, André C, Deltenre P. Large-scale screening is not useful for identifying individuals with hepatitis B or C virus infection: A prospective Swiss study. J Viral Hepat. 2021;28(12):1756-8.
  4. Rüeger S, Bochud P, Dufour J, Müllhaupt B, Semela D, Heim MH, et al. Impact of common risk factors of fibrosis progression in chronic hepatitis C. Gut 2015;64:1605-1615.
  5. Kondili LA, Gamkrelidze I, Blach S, Marcellusi A, Galli M, Petta S, et al. Optimization of hepatitis C virus screening strategies by birth cohort in Italy. Liver Int. 2020;40(7):1545-55.
  6. Bihl F, Bruggmann P, Castro Batänjer E, Dufour JF, Lavanchy D, Müllhaupt B, et al. HCV disease burden and population segments in Switzerland. Liver Int. 2022;42(2):330-9.
  7. Bregenzer A, Conen A, Knuchel J, Friedl A, Eigenmann F, Naf M, et al. Management of hepatitis C in decentralised versus centralised drug substitution programmes and minimally invasive point-of-care tests to close gaps in the HCV cascade. Swiss Med Wkly. 2017;147:w14544.

Downloads