Unsere Stellungnahme zur Antwort von Bertisch et al. 2023 "Letter to the Editor"

News — 26.10.2023

Hepatitis-C-Epidemiologie in der Schweiz: Wir brauchen eine bessere Datengrundlage und Surveillance

Wir haben die Antwort von Bertisch et al. 2023 (1) auf unseren Leserbrief zur Kenntnis genommen. (2) Leider enthält ihre Antwort irreführende Informationen und Fehlinterpretationen von wissenschaftlichen Daten. Wir bleiben bei unserer Einschätzung, dass die Autoren die Verlässlichkeit und Validität der Publikationen in ihrer Review nicht ausreichend diskutieren, wie wir in unserem «Letter to the Editor»(2) und unserer «List of detailed concerns»(3) (abrufbar unter: http://bit.ly/40dY1vy) dargelegt haben.

Epidemiologische Daten sind fast immer mit Einschränkungen verbunden. Diese sind: unvollständige Datenerhebung, begrenzte Repräsentativität aufgrund von Problemen der Selektion und damit Limitationen bei der Übertragung auf andere Settings, hohe Variabilität der Primärdaten, die zu einer hohen Varianz führt, Unsicherheit der Punktschätzungen und oft mangelnde statistische Aussagekraft. Hepatitis Schweiz begrüsst deshalb offene und faktenbasierte Diskussionen. Wir brauchen einen konstruktiven Dialog auf der Grundlage wissenschaftlicher Standards.

In diesem Sinne möchten wir auf einige Fehler und irreführende Interpretationen von Bertisch et al. hinweisen. Obwohl Bertisch et al. viele Publikationen zitieren, versäumen sie es immer wieder, auf die neuesten Publikationen zu verweisen: So wird die Studie von Bihl et al. 2022 (4) (bei der es sich nicht um unsere "eigene Modellierungsstudie" (1) handelt, wie von den Autoren fälschlicherweise behauptet) in der Review nicht diskutiert. (5)(3) Ein weiteres Beispiel ist eine Veröffentlichung zur Modellierung der Krankheitslast. Bertisch et al. versuchen, ihr Argument über falsche Projektionen der steigenden Sterblichkeit mit einer Modellierungsstudie aus dem Jahr 2015 zu untermauern. (6) Es ist den Autor:innen jedoch entgangen, dass diese Veröffentlichung aktualisiert wurden: Die erneuerten Berechnungen projizieren keinen Anstieg der Sterblichkeit, wie von Bertisch et al. behauptet.(7)

Die Aussage, dass die Daten des Schweizer Meldesystems es erlauben würden, virämische Hepatitis-C-Virus (HCV)-Fälle in der Schweiz zuverlässlig zu erkennen, ist zu optimistisch und irreführend. Die virologischen Diagnostiklabors in der Schweiz bezweifeln, dass alle HCV-RNA-Testergebnisse an das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gemeldet und mit positiven Antikörpertestergebnissen verknüpft werden. Um das derzeitige Meldesystem zu verbessern, müssten zusätzliche Massnahmen, ähnlich wie bei den HIV-Meldungen, eingeführt werden.

Dieses Beispiel zeigt, dass wir uns bei der Interpretation der verfügbaren Daten der Grenzen von Strukturen und Prozessen bewusst sein müssen. Die gewonnenen Informationen müssen wir entsprechend kontextualisieren: Das derzeitige HCV-Meldesystem vermittelt ein unvollständiges Bild und spiegelt die tatsächliche Prävalenz dieser Krankheit nicht zuverlässig wider. Wir bräuchten mehr Daten und einen Expertenkonsens-Prozess, der die wichtigsten HCV- und Public-Health-Experten in der Schweiz mit langjähriger Erfahrung in diesem Bereich einschliesst, um die Schätzungen zur HCV-Prävalenz in der Schweiz zu erneuern.

Die Daten zur HCV-Prävalenz in der Schweiz weisen erhebliche Lücken auf: Es fehlt eine grosse Prävalenzstudie in der Bevölkerung. Weiter stammen die Daten zur HCV-Prävalenz in erster Linie aus bestimmten Settings mit einer Tendenz zur optimierten Versorgung(8), was die Verallgemeinerbarkeit einschränkt. Zudem fehlen verlässliche Daten über die Krankheitslast und die durch HCV verursachte Sterblichkeit. (9)

Die Schweiz braucht ein besseres Surveillance- und Response-System, um die Situation kontinuierlich zu überwachen und rasch zu reagieren. Es sollten Daten über positive Tests (HCV-Antikörper und HCV-RNA), Behandlungszahlen und -settings sowie zuverlässige und ständig aktualisierte Daten über Morbidität und Mortalität zur Verfügung stehen. Eine Zusammenarbeit mit dem Krebsregister wäre notwendig. Wir hoffen, dass das neue HIV- und Hepatitis-Programm (NAPS), das ab Januar 2024 umgesetzt werden soll, die Grundlage für diese Anforderungen schaffen wird.

Zu guter Letzt behaupten Bertisch et al. 2023 fälschlicherweise, dass Hepatitis Schweiz die CDA Foundation wiederholt beauftragt habe. Wir kennen und schätzen die wichtige Arbeit der international renommierten CDA Foundation. Deren Publikationen wurden jedoch nie von Swiss Hepatitis in Auftrag gegeben oder finanziert. Die CDA arbeitet direkt mit Hepatitis-Expert:innen in der Schweiz zusammen.

Abschliessend bekräftigen wir unsere Einschätzung, dass die Publikationen von Bertisch et al. nicht genügend wissenschaftliche Grundlagen liefern, um andere aktuelle HCV-Prävalenzschätzungen in der Schweiz zu revidieren oder die Einhaltung der WHO-Eliminierungsziele zu beurteilen. Es sind weitere Arbeiten erforderlich, um ein klares Bild der aktuellen Epidemiologie und Krankheitslast von Hepatitis C in der Schweiz zu erhalten.

Referenzen

  1. Bertisch B, Schaetti C, Schmid P, Peter L, Vernazza P, Isler M, et al. Letter to the Editor: Chronic hepatitis C virus infections in Switzerland in 2020: Lower than expected and suggesting achievement of WHO elimination targets. J Viral Hepat. 2023;

  2. Blach S, Bregenzer A, Bruggmann P, Cerny A, Maeschli B, Negro F, et al. Assessing the hepatitis C epidemiology in Switzerland: it’s not that trivial. J Viral Hepat. 2023;00:1–2.

  3. Swiss Hepatitis. List of detailed concerns [Internet]. 2023 [cited 2023 Oct 21]. Available from: https://hepatitis-schweiz.ch/data/download/81680/List-of-concerns-re-Bertisch-et-al-2023_17_07_23.pdf

  4. Bihl F, Bruggmann P, Castro Batänjer E, Dufour J-F, Lavanchy D, Müllhaupt B, et al. HCV disease burden and population segments in Switzerland. Liver Int. 2022;42:330–9.

  5. Bertisch B, Schaetti C, Schmid P, Peter L, Vernazza P, Isler M, et al. Chronic hepatitis C virus infections in Switzerland in 2020: Lower than expected and suggesting achievement of WHO elimination targets. J Viral Hepat. 2023;30(8):667–84.

  6. Müllhaupt B, Bruggmann P, Bihl F, Blach S, Lavanchy D, Razavi H, et al. Modeling the health and economic burden of hepatitis C virus in Switzerland. PLoS One. 2015 Jun 24;10(6).

  7. Müllhaupt B, Bruggmann P, Bihl F, Blach S, Lavanchy D, Razavi H, et al. Progress toward implementing the Swiss Hepatitis Strategy: Is HCV elimination possible by 2030? PLoS One. 2018;13(12).

  8. Bregenzer A, Conen A, Knuchel J, Friedl. A, Eigenmann F, Näf M, et al. Management of hepatitis C in decentralised versus centralised drug substitution programmes and minimally invasive point-of-care tests to close gaps in the HCV cascade. Swiss Med Wkly. 2017;Swiss Med.

  9. Keiser O, Giudici F, Müllhaupt B, Junker C, Dufour JF, Moradpour D, et al. Trends in hepatitis C-related mortality in Switzerland. J Viral Hepat. 2018;25(2):152–60.